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Achtsamkeit – Hype oder Allheilmittel?

Lesezeit: 6 Minuten

Es mal wieder aushalten können, nichts zu tun. Das Thema Achtsamkeit ist in aller Munde und verspricht mehr Zufriedenheit und Freude im Leben – doch was genau steckt dahinter?

„Es sind nicht die äußeren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich im Leben äußern.“ – Wilma Thomalla

Es macht den Eindruck, als würden wir in einer Zeit der Ablenkung leben. Wir essen, während wir Mails beantworten, kochen und schauen dabei fern, arbeiten und hören nebenbei Musik. Wir erleben zudem eine stetig wachsende Beschleunigung in beruflichen sowie privaten Lebensbereichen. Diese ist  gespickt mit einer immensen Informationsflut, die auf uns hereinprasselt.

Die Achtsamkeitspraxis ist vor allem dafür bekannt, dass der gegenwärtige Moment mit all seinen Sinneseindrücken im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht. Belastende Gedanken sollen in den Hintergrund rücken. Je weniger wir über bestimmte Dinge grübeln oder nachdenken, desto mehr können wir uns auf das Wesentliche im Hier und Jetzt fokussieren.

Doch wie genau soll das funktionieren und was bringt uns diese Fokussierung auf den gegenwärtigen Moment? Gehört nicht noch mehr zu einem achtsamen Dasein?

Bevor diese Fragen geklärt werden, widmen wir uns der Frage, was Achtsamkeit eigentlich bedeutet.
Woher stammt der Begriff und die dazugehörige Praxis? 

Was ist Achtsamkeit eigentlich?

Achtsamkeit ist zunächst eine Art Konzept oder Praxis, die dabei helfen soll, stressigen Momenten und Situationen mit erhöhter innerer Ruhe und Akzeptanz entgegenzutreten.

Achtsamkeit ist außerdem vor allem eine Form der Meditation, welche ursprünglich aus dem Buddhismus stammt. Der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn entwickelte in den siebziger Jahren eine „westliche“ Variante, die sich bis heute einer immer größer werdenden Beliebtheit erfreut. An der University of Massachusetts entwickelte er eine Achtsamkeitspraxis namens Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Es handelt sich dabei um ein achtwöchiges Training, in welchem man die Praxis der Achtsamkeit kennen- und anzuwenden lernt.

Sich selbst, die eigenen Emotionen, Triggergedanken und die eigene Umwelt bewusster wahrnehmen – Fähigkeiten, welche durch die regelmäßige Achtsamkeitspraxis gestärkt oder erlernt werden.

 

Der eigentliche Knackpunkt der Achtsamkeit liegt allerdings in einer weiteren Fähigkeit. Gedanken oder Situationen sollen zwar wahrgenommen, dabei aber nicht bewertet werden. Meist sind unsere Denkmuster und Glaubenssätze so gesteuert, dass wir beispielsweise in einer Situation direkt die negativen Gesichtspunkte sehen. Oftmals bewerten wir den Tag als stressig und grübeln über Dinge, die längst vergangen sind. Es fällt uns also leichter, eher die Negativen als die Schönen und positiven Dinge zu sehen – genau diese Angewohnheit kann Stress auslösen.

Hilft Achtsamkeit gegen Stress?

Eine solche Aussage pauschal als wahr und für jeden gültig zu bezeichnen, ist immer schwer. Noch werden Wirkmechanismen der Achtsamkeit auf physiologischer und psychischer Ebene untersucht. Es gibt schon einige Studien, die die Wirksamkeit von Achtsamkeitspraktiken gegenüber Stress positiv bewerten. Allerdings weisen einige von ihnen weiterhin Unsicherheiten auf, weshalb von einer wissenschaftlich erwiesenen Wirksamkeit vorsichtig gesprochen werden sollte.

Trotzdem kann die regelmäßige Durchführung von Achtsamkeitsübungen dabei helfen, mit Stresssituationen besser umgehen zu können, bzw. diese schon vor deren auftreten, in ihrer Wirkung zu mindern. Um zu verstehen, wie Achtsamkeit dahingehend positiv wirken kann, sollte ein Grundverständnis dafür vorhanden sein, wie Stress entsteht und was Stress in uns Menschen auslöst.

Was ist Stress eigentlich?

Die Achtsamkeitspraxis zielt darauf ab, Stress zu verringern, bzw. besser mit stressreichen Situationen umzugehen. Doch kann das so pauschal bei jedem zutreffen? Bei genauerem Hinsehen, ist wahrgenommener Stress sehr subjektiv und individuell. Eine Situation, die von der einen Person als sehr stressig empfunden wird, kann von einer anderen Person als unbedeutend oder weniger stressig wahrgenommen werden. Stress kann sowohl eine auslösende Situation oder aber die Reaktion auf diese Situation sein. Je nach Veranlagung und Vorerfahrungen, reagieren Menschen mit mehr oder weniger Stress. Es gibt also immer eine Auslöser-Situation und eine entsprechende Reaktion darauf.

Warum haben wir Stress?

Unser Körper möchte uns mit der eigentlichen Reaktion auf stressige Momente nur schützen. Gibt es einen solchen Überraschungsmoment – ob positiv oder negativ – so reagiert unser Organismus mit einer sogenannten „Fight-or-Flight“-Reaktion. Unser Körper aktiviert sich und bereitet sich auf die Flucht vor. Adrenalin wird ausgeschüttet, der Herzschlag wird kräftiger, der Blutdruck steigt. Funktionen, die im ersten Moment zum Überleben nicht wichtig sind, werden gehemmt. Dazu gehören zum Beispiel die Verdauung, die Fruchtbarkeit oder auch das Immunsystem. Allein dieser Hinweis zeigt schon, welche Probleme ein dauerhaft erhöhtes Stresslevel mit sich bringen kann.

Doch wie kann Achtsamkeit mir dabei helfen, weniger gestresst zu sein?

Zum einen kann das Meditieren oder generell das Ausüben von Achtsamkeitspraktiken dabei helfen abzuschalten, den Körper herunterzufahren und sich dadurch (subjektiv) weniger gestresst zu fühlen. Einen Ausgleich zu stressigen Momenten zu finden, ob aktiv sportlich, entspannend oder durch eine andere Methode ist ratsam, um stressigen Situationen etwas entgegensetzen zu können.

Achtsamkeit kann außerdem an einem bestimmten Punkt der Stresssituation hilfreich sein. Wie oben beschrieben, gibt es immer einen Stressauslöser und daraufhin die Reaktion unseres Körpers. Achtsamkeitsübungen können dabei helfen, genau zwischen diesen Punkten des Reizes und der Reaktion einen Raum zu schaffen, über den wir selbst verfügen können. Setzen wir an dieser Stelle eine Übung ein, die uns dabei hilft, uns selbst wahrnehmen zu können, die uns dabei hilft den jetzigen Moment unbewertet zu betrachten, so können wir die anstehende Reaktion mindern. Es entsteht ein Abstand zwischen Reiz und Reaktion.

Ein Beispiel für dieses Phänomen:

Morgen steht eine wichtige Prüfung an und ich habe Angst davor. Beobachte ich dieses Gefühl, ohne es zu bewerten, so kann ich es schaffen, dass entweder eine verminderte oder eben gar keine Reaktion ausgelöst wird. Ich steigere mich nicht in die Angst rein, versuche aber auch nicht krampfhaft davon loszukommen. 
Ein solches Szenario ist so natürlich vereinfacht dargestellt. Die eigenen Gefühle in diesem Maße unbewertet zu lassen, bedarf einer langen Übungsphase und die Bereitschaft, sich auf das Achtsamkeitstraining einzulassen.

Doch ist Achtsamkeit wirklich ein Allheilmittel gegen Stress?

Das Thema Achtsamkeit ist wirklich in aller Munde und verspricht die Lösung für viele alltägliche Probleme. Es ist logisch, dass es mittlerweile auch einige kritische Stimmen bezüglich des Themas gibt. Auch diese sollen an dieser Stelle kurz aufgegriffen werden. Kritikpunkt ist beispielsweise die Tatsache, dass in der Achtsamkeitslehre hauptsächlich davon gesprochen wird, dass wir selbst und vor allem unsere Denkmuster dafür verantwortlich sind, dass wir Stress empfinden. So werden die eigentlichen Ursachen für den Stress, welche in unserer Umgebung liegen können, laut Kritiker:innen nicht in Frage gestellt. „Die wahren Probleme“ würden dadurch außer Acht gelassen und das Individuum an sich zur Verantwortung gezogen. Auch für kollektive, beispielsweise gesellschaftliche Probleme trage man als Einzelperson die Verantwortung – zumindest dann, wenn man sich durch diese gestresst fühlt.

Auch die in der Achtsamkeit oft erwünschte Nichtbewertung von Gefühlen oder Situationen wird häufig kritisiert. Emotionen wie Freude, Wut oder Traurigkeit seien allesamt wertvoll und wichtig, um sich weiterentwickeln zu können, um für sich einzustehen und mental stark und gesund zu bleiben.

Achtsamkeit als Bewältigungsstrategie

Betrachten wir die positiven Gesichtspunkte sowie die kritischen Aussagen, so haben beide Sichtweisen ihre Daseinsberechtigung. Natürlich sollte die Praxis der Achtsamkeit an sich nicht als Allheilmittel verstanden werden. Sehen wir andere Menschen, die in der gleichen Situation gelassener reagieren als wir es tun, nagt dies häufig an unserer Selbstsicherheit. Liegt es nur an mir, dass ich so negativ reagiere? Bin ich einfach zu schwach für die Situation? Sind die Umstände gar nicht so schlimm, bin ich das Problem? Beziehen wir dann strukturelle Probleme nur auf uns selbst und unsere Denkmuster, kann dies durchaus negativ auf das eigene Selbstbewusstsein wirken.

Unstrukturierte Arbeitsabläufe, Überstunden, Mobbing oder Ähnliches sind kritische Umstände, die Stress auslösen können. Solche Umstände sollten wir nicht ignorieren oder außer Acht lassen. Meistens können wir genau solche Gegebenheiten beeinflussen, verändern oder aber dahingehend verändern, dass wir uns wohler damit fühlen. Unseren Denkweisen oder der eigenen Persönlichkeit sollten wir für diesen Stress nicht die Schuld geben. 

Change it, leave it or love it!

 Ganz im Gegenteil, strukturelle Probleme sollten wir angehen, ganz nach dem Motto „change it, leave it or love it“. Doch genau an dieser Stelle kann uns ein erhöhtes Bewusstsein, welches wir vielleicht dadurch erhalten, dass wir im Alltag achtsamer für unsere Umgebung, für uns selbst und unsere Gefühle sind, helfen. Solche Gegebenheiten müssen wir im Alltagstrott erstmal erkennen und wahrnehmen, was in unserem „Autopiloten“ vielleicht gar nicht so einfach ist.

Natürlich sollten wir außerdem unsere Gefühle und Gedanken, ob positiv oder negativ, nicht komplett ausschalten. Das verlangt die Praxis der Achtsamkeit auch gar nicht. Wir könnten uns lediglich ein paar mehr Momente nehmen, in denen wir bewusst mal nicht über Situationen oder Gedanken nachdenken oder grübeln. Es geht lediglich darum, negative Gedanken auch mal sein zu lassen, vielleicht nicht direkt wieder in die nächste Stresssituation überzugehen und den Körper herunterfahren zu können.

 

Jede:r sollte für sich herausfinden, was Achtsamkeit für sich selbst bedeutet, was guttut oder was zu viel des Guten ist.

Achtsamkeit hat auch immer etwas mit der eigenen Haltung zu tun – es geht nicht immer nur darum, generell weniger Stress zu empfinden, Probleme zu lösen oder krampfhaft zu versuchen an nichts zu denken.

Achtsamkeit ist erlernbar

Bei der Achtsamkeit geht es auch darum, sich selbst besser kennenzulernen, sich daran zu erinnern, was positiv lief, welche Herausforderungen gemeistert wurden oder einfach mal nichts zu tun. Es gibt mittlerweile zahlreiche Kurse, Online-Trainings, Apps oder Workshops, in denen du Achtsamkeitsübungen lernst. Kleine Achtsamkeitsübungen lassen sich schnell in den Alltag integrieren und können dabei helfen, für einen kurzen Moment abzuschalten. Für praktische Achtsamkeitsübungen, schaue einfach mal auf unseren Social-Media-Kanälen vorbei. Dort findest du Übungen, die du einfach in deinen Alltag integrieren kannst. Auch Reflexionsfragen haben wir dort gesammelt. Wofür bin ich heute dankbar? Worüber konnte ich heute so richtig lachen? Was habe ich heute Gutes für jemanden getan? Fragen, die dir dabei helfen, dich kennenzulernen und (positive) Momente in dein Bewusstsein zu holen.

Routinen für mehr Achtsamkeit im Alltag

Falls es dir schwerfällt, dich auf konkrete Übungen einzulassen, haben wir hier ein paar Tipps für dich, wie du achtsame Momente auf deinen Alltag verteilen kannst:

 

  • Konzentriere dich beim Essen wirklich nur darauf. Kein Fernseher, kein Handy nebenbei und keine Mails in der Mittagspause.
  • Nimm beim Spazierengehen die frische Luft wahr, anstatt über deine To-Do-Liste, bestimmte Situationen oder Gefühle nachzudenken.
  • Versuche im Laufe des Tages mal bewusst deinen Atem zu spüren – Ist er flach oder tief? Langsam oder schnell? Leicht oder schwer?
  • Versuche während des Sitzens auf einem Stuhl oder auf der Couch den Kontakt des Sitzes zu spüren – Wie ist deine Körperhaltung gerade? Wie stehen meine Füße? Wie fühle ich mich gerade?
 

Mehrere kleine Dinge zu beachten, neue Routinen zu entwickeln, fällt dir möglicherweise einfacher, als jeden Tag für eine bestimmte Zeit ruhig zu meditieren.

Durch solche kleinen Reminder kannst du Momente bewusster wahrnehmen, was dir hilft, präsenter zu werden. Je mehr du dich auf das Hier und Jetzt fokussierst, desto weniger kommst du ins Grübeln – belastende Gedanken rücken dann vielleicht automatisch in den Hintergrund.

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Fazit

Es mal wieder aushalten können, nichts zu tun – unter diesem Aspekt scheint es sinnvoll zu sein, sich mit dem Phänomen der Achtsamkeit auseinanderzusetzen. Es vielleicht einfach mal schrittweise auszuprobieren, aufmerksamer zu sich selbst zu sein. Achtsamkeit sollte sicherlich nicht als Allheilmittel verstanden werden, es kann aber eine Bewältigungsstrategie sein und dir dabei helfen, dich und deine Bedürfnisse besser kennenzulernen. 

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Vanessa Lippert

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